„Das ist er also.“
„Ja.“
„Sieht nicht aus, als könne er einer Fliege etwas zu leide tun.“
„So leicht kann man sich täuschen.“ Ich fuhr mit den Fingern durch den feinen Sand.
„Aber im Moment gibt er Ruhe?“
„Das will ich ihm auch geraten haben.“
Eine Weile sahen wir den beiden zu, wie sie mit den Wellen spielten. Sie waren ziemlich gut darin. Dank Sonne, Wind und der Ruhe, kam die Müdigkeit zurück. Schläfrig streckte ich mich auf der Decke aus und schloss die Augen. Das sanfte Rauschen der Wellen und das Kreischen der Möwen taten ihr Übriges. Meine Gedanken glitten erneut zu Kai. Seit ich aufgehört hatte, mich anzustrengen, ihn mir ins Gedächtnis zu rufen, war er ständig bei mir. Der gesamte Tag hätte so gar nicht in sein Bild eines Urlaubs gepasst. Wir wären gar nicht erst bis zur See gekommen. Vielleicht ans Meer, aber an eines, das nur mit dem Flugzeug zu erreichen war. Da hatte er stur sein können. Ich vermisse dich.
„Wow, das sind ja ganz neue Töne.“
Ich fuhr hoch und blinzelte in die helle Nachmittagssonne. „Was?“
„Du hast geredet. Ich nehme an, die Worte waren nicht an mich gerichtet.“ Bjarne hatte es sich neben mir bequem gemacht.
Ich hatte nicht bemerkt, dass ich laut gesprochen hatte. Zu seinem Glück war ich zu träge, um auf seine Anspielung einzugehen. Dunkel erinnerte ich mich daran, ihn auf meine Seite ziehen zu wollen. Nach dem Wortgefecht in seinem Auto, als er mich nach Hause gefahren hatte, war die Idee in Vergessenheit geraten. Zumal glaubte ich nicht daran, dass es überhaupt möglich war. Charme zog bei ihm nicht. Er ließ sich nicht täuschen. Und ganz bestimmt würde ich nicht mit ihm flirten oder geschweige denn noch weitergehen, um ihn kleinzukriegen.
„Wo ist Kathy?“
Er zeigte mit dem Finger in eine Richtung. Sie stand mit Mika am Rand des Strandes und machte Trockenübungen auf dem Surfbrett. Ihr Lachen drang zu uns herüber. Morgen würde Kathy wieder fahren. Das Bindeglied zu meinem alten Leben, meinem eigentlichen Zuhause. Würde ich mich weiterhin gut fühlen? Oder würde die Dunkelheit erneut an Macht gewinnen? Ich hatte noch immer keine Ahnung, wann ich zurückgehen wollte. Aber Kathy würde da sein, wenn es soweit war. Sie zu sehen, hatte gutgetan.
„Schon mal probiert?“ Bjarne klopfte mit den Fingerknöcheln auf das Brett.
„Nein, nie.“ Ich dachte nach. „Es hat mich immer gereizt, trotzdem habe ich es nie versucht.“
„Ich könnte es dir beibringen.“
Seine Stimme war leiser geworden, als wäre er sich nicht sicher, ob er die Worte überhaupt hätte aussprechen sollen. Ich löste den Blick von Kathy und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Schon verstanden.“
„So war das nicht gemeint.“ Ich schirmte die Sonne mit der flachen Hand vor meiner Stirn ab, um ihn besser betrachten zu können. „Wenn ich eins in den vergangenen Monaten gelernt habe, dann, dass man seine Zeit nicht mit sinnlosen Streitigkeiten vergeuden sollte.“
„Kommt jetzt, das Leben ist zu kurz, bla bla bla?“ Seine Züge verhärteten sich.
„Ja, so ähnlich, nur ohne das Bla Bla.“
„Bist du deshalb hier?“
Ich wollte ihm darauf nicht antworten. Außerdem konnte ich mich nicht richtig konzentrieren, während ich ihm dabei zusah, wie er den Reisverschluss seines Neoprenanzuges ein ganzes Stück bis über seinen Bauchnabel öffnete, seine Arme daraus befreite und ihn herunterzog. Danach lehnte er sich zurück, die Unterarme im Sand abgestützt.
„Tante Moni hatte mich gefragt, ob ich nicht Lust hätte, sie zu besuchen. Ich habe zugesagt, und nun bin ich hier.“
„Musst du nicht irgendwann wieder arbeiten?“
„Bevor ich hergekommen bin, habe ich meinen Job gekündigt.“
Er richtete sich wieder auf. „Einfach so?“
„Mit dem Gedanken hatte ich schon länger gespielt.“ Ich vergrub meine nackten Füße im Sand. „Ich bereue es nicht.“
„Was war das für ein Job?“
„Ich bin gelernte Hotelfachfrau und war an der Rezeption eines großen Hotels tätig.“
„Okay, und in deiner Freizeit zeichnest du gern? Also, wegen neulich am Strand, du weißt schon.“
Ich konnte die Kälte nicht abwehren, die sich in meinen Körper schlich. Es ging ihn nichts an. Warum fragte er überhaupt so viel? Interessierte es ihn wirklich oder wendete er die gleiche Methode an, mit der ich in Gedanken gespielt hatte? Nett sein und für sich gewinnen? Ich wusste es nicht und wollte ihm keinesfalls negative Absichten unterstellen. Trotzdem sollte ich auf der Hut sein. Welchen Grund gab es sonst, sich näher kennenzulernen? Bei der nächstbesten Gelegenheit würde es erneut zu einem Streit kommen. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Wozu also die Mühe? Ich schwieg beharrlich.
„Ich frage zu viel, richtig? Du musst nicht antworten, ich war bloß neugierig auf die Person vor mir.“ Sein unschuldiger Blick ruhte auf mir.
Fasziniert betrachtete ich das klare Blau seiner Augen, als würde sich der Ozean darin spiegeln. Ein leichtes Kribbeln erfasste meinen Körper und hinterließ eine Gänsehaut. Unfähig mich zu rühren, glitt mein eigener Blick von seinen Augen, über die Lippen, eingebettet in einen kurzgehaltenen Vollbart, immer tiefer. Wie er dort saß, erinnerte er mich unwahrscheinlich an einen meiner Lieblingsschauspieler – Chris Hemsworth. Auf seiner durchtrainierten Brust lag nur ein weicher Flaum blonder Härchen. Unterhalb des Bauchnabels war der Ansatz eines schmalen Streifens weiterer Haare zu sehen, dessen Ende vom Stoff des Neoprenanzugs verdeckt wurde. Doch auch ohne direkte Sicht verfügte ich über genügend Vorstellungskraft. Ich spürte, wie die Röte mein Gesicht zum Leuchten brachte und wendete mich schnell ab.
„Können wir das Kriegsbeil nicht begraben? Mir gefällt es so viel besser.“
Ich zuckte zusammen, als seine Finger vorsichtig eine Strähne aus meinem Gesicht strichen. „Nicht anfassen.“ Es war mir nicht möglich, ihn anzusehen.
„Wenn es um Moni geht …“
„Nein, nicht nur.“ Ich sprang auf und lief zu den anderen. Mein Herz trommelte wild gegen meinen Brustkorb. Durcheinander und verängstigt von der körperlichen Reaktion, die er auf mich ausübte. Was war da gerade geschehen? Ja, er sah gut aus. Aber ich hatte kein Interesse an einem Mann. Kais Tod war nicht mal ein halbes Jahr her. Und selbst wenn ich bereit wäre für etwas Neues, wäre Bjarne so ziemlich der Letzte, der infrage käme. Er war egoistisch, rücksichtslos, materiell eingestellt, spielte mit Menschen und Gefühlen. Man konnte ihm nicht trauen. Ich spürte diesmal nur seinen Blick in meinem Rücken, aber vielleicht war es beim nächsten Mal ein Messer, das er benutzte, um seine Ziele zu erreichen.
„Hey, wir gehen doch noch Eis essen?“
Ein riesiges Bitte war in Kathys Augen zu lesen. Ich hatte eigentlich gehofft, ein paar Stunden allein mit ihr zu verbringen, bevor sie am nächsten Morgen abreisen würde. Andererseits hatten wir den ganzen Abend vor uns. Ich wollte ihr den Spaß nicht verderben, und das mit dem Eis, war immerhin von mir gekommen. Wahrscheinlich wäre Kathy eh nicht zu gebrauchen, wenn ich jetzt nein sagen würde.
„Okay, von mir aus.“
„Super, du bist die Beste.“
Bjarne hatte sich nicht vom Fleck bewegt und beobachtete das Ganze von weitem. Er sah ebenfalls nicht aus, als hätte er noch Lust auf ein Eis. Wahrscheinlich hatte sein Ego gelitten, als ich auf seinen Annäherungsversuch nicht eingegangen war.
„Gehen wir, oder was?“ Er war aufgestanden und trat zu Mika und Kathy.
„Ich habe den Damen ein Eis versprochen.“
Ich hatte mich dem Meer zugewendet, konnte seine Reaktion daher nur erahnen. Interessiert wartete ich auf einen typischen Kommentar, während die Wellen meine Füße umspülten.
Ich spürte ihn, bevor ich ihn sehen konnte. Er stand so nah neben mir, dass ich meine Hand nur ein Stück auszustrecken brauchte, um ihn zu berühren.
„Ich weiß, du wärst gern lieber auf dem Mond, als mit mir in einer Eisdiele. Aber ich verspreche, ich benehme mich. Kein Spruch, kein Anfassen, keine persönlichen Fragen. Lassen wir den beiden ihren Spaß. So wie es aussieht, mögen sie sich. Ich schätze, ich bin es Mika schuldig, mal in zweiter Reihe zu stehen.“
Seine tiefe einfühlsame Stimme drang tief in mich hinein und verursachte einen Schauder. Ich stellte mir vor, wie er mich dabei berührte. Verdammt, was stimmte nicht mit mir? Mit immenser Kraftanstrengung rang ich meinen Fluchtinstinkt nieder. Er würde mich für völlig übergeschnappt halten.
„Einverstanden. Ein Eis und dann trennen wir die beiden.“ Gegen meinen Willen stahl sich ein Lächeln in mein Gesicht.
Auf dem Weg zur Promenade hakte sich Kathy bei mir unter. „Danke, dass du mitkommst. Ich weiß ja, du bist nicht gut auf ihn“, sie nickte in Bjarnes Richtung, „zu sprechen.“
„Solange du meine Gutmütigkeit nicht ausreizt.“
„Werde ich nicht, versprochen. Der Abend gehört uns allein.“
Wir setzten uns in den Außenbereich der Strandbar. Kathy und Mika nahmen das eine Sofa in Beschlag, was hieß, ich musste mir wohl oder übel das zweite mit ihm teilen. Automatisch rutschte ich an den Rand, Bjarne tat es mir gleich. Im Grunde war mir nicht nach Eis, ich bestellte nur, damit meine Hände etwas zu tun hatten, während neben mir kräftig geflirtet wurde.
Da er versprochen hatte, keine persönlichen Fragen zu stellen, verlief das Gespräch eher stockend bis gar nicht. Ich fand es im Gegenzug unpassend, ihn auszufragen. Als Mika nach einer halben Stunde eine Runde Cocktails spendieren wollte, unterdrückte ich nur mit Mühe ein Stöhnen. Kathys Blick huschte zu mir rüber.
„Ich nehme einen Cuba Libre.“ Damit gab ich ihr die Antwort, die sie gerne hören wollte und wurde mit einem Strahlen belohnt.
„Ich hoffe, sie weiß zu schätzen, was du für sie tust.“
Bjarne war ein Stück näher gerutscht, um nicht so laut sprechen zu müssen.
„Tust du nicht gerade das gleiche für deinen Freund?“
„Ja, aber ich genieße deine Gegenwart auch ein wenig.“
Ich verdrehte die Augen. Wollte er allen Ernstes mit mir flirten? Die zärtliche Geste am Strand und jetzt ein beiläufiges Kompliment. Was hatte er vor?
„Die Tour zieht bei mir nicht, mein Lieber.“
„Mein Lieber? Autsch, sei nicht so hart zu mir.“
Er schien nun erst recht zur Hochform aufzulaufen. Zum Glück wurden in dem Augenblick die Drinks gebracht.
„Frau Bach? Habe ich doch richtig gesehen. Wie schön. Bereit für morgen?“
„Hallo, sicher bin ich das. Ich freue mich schon.“
Constantin Thiel nickte höflich und verschwand hinter der Bar.
„Das ist dein neuer Chef? Nett.“ Kathy zwinkerte mir anerkennend zu.
„Chef?“ Bjarne klang irritiert.
„Liz wird in seinem Restaurant arbeiten“, klärte Mika auf. „Dann bleibst du uns noch eine Weile erhalten?“
„Vorerst. Es gibt da ein paar Dinge zu regeln.“ Ich versuchte dabei, Bjarne nicht anzuschauen.
„Umso besser, dann muss ich notgedrungen wiederkommen, um dich zu besuchen“, kicherte Kathy.
Ich verfiel wieder in Schweigen, lehnte mich nach hinten und betrachtete die Wolken am Himmel.
„Darf ich dir einen Vorschlag machen?“ Bjarne stützte sich mit dem Arm auf der Sofalehne ab. Sein Duft hüllte mich ein.
„Schieß los.“
„Ich hatte bisher nicht die Gelegenheit meinen Standpunkt dir gegenüber deutlich zu machen. Wie wäre es, wenn wir zwei uns treffen und in Ruhe reden.“
„Wozu sollte das gut sein? Ich kenne deinen Standpunkt.“
„Du hast den Job aus einem bestimmten Grund angenommen.“
„Ja, um Geld zu verdienen.“
„Du willst Moni damit unterstützen. Liz, das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Fahr nach Hause, zurück in dein altes Leben.“
Ich fuhr herum. Sein Gesicht war nur Zentimeter von meinem entfernt. „Mein altes Leben existiert nicht mehr. Und du bist nicht in der Position, mir zu sagen, was ich tun soll“, zischte ich und ballte die Hände zu Fäusten.
Musste jedes Gespräch mit ihm in einem Streit enden? Was ging ihn mein Job an? Für wen hielt er sich? Wieder einmal brodelte es in mir. Nur diesmal waren wir nicht allein. Ich wollte ihm vor den anderen keine Szene machen, schon gar nicht vor meinem neuen Chef.
„Danke, du erinnerst mich daran, warum ich mir geschworen habe, mich nie fest zu binden. Es ist sinnlos, vernünftig mit euch Frauen reden zu wollen.“
Ich lachte laut auf. „Das sagt der Richtige.“
„Okaaay, ich behaupte, wir haben eure Nerven lang genug strapaziert. Liz und ich lassen euch jetzt allein. Bjarne, war nett dich kennenzulernen.“
„Ja, klar.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust.
Ein leichtes Pochen machte sich hinter meinen Schläfen bemerkbar. Der Typ trieb mich in den Wahnsinn. Ich bemühte mich wirklich, ihm eine Chance zu geben. Es ging nicht darum, beste Freunde zu werden, sondern einen Kompromiss zu finden, mit dem alle glücklich waren. Aber das war wohl ein Wunsch, der nicht in Erfüllung gehen würde. Ich war mit meinem Latein am Ende. Wie konnte er denken, ein vernünftiges Gespräch zu führen, wenn er jedes Mal gleich in die Luft ging? Ich dachte einen Moment nach. Oder war ich es gewesen, die abgeblockt hatte? Nein, ich hatte nur nachhaken wollen, während er sich in Dinge einmischte, die ihn nichts angingen. Mein altes Leben. Natürlich konnte er darüber nichts wissen, wie auch.